Sonntag, 9. Oktober 2016

#chicago2016 Chicago-Marathon

#chicago2016 Chicago-Marathon








Ein gutes Pferd springt immer nur so hoch, wie es muss - auch in Chicago!


Minimalismus oder Maßarbeit? Oder beides? Egal! Hauptsache Sub3!



Am 1. August begann ich, mit nur knapp 450 km Laufkilometern im ganzen Jahr und fast keinen seit Mai, meine Vorbereitung auf den Chicago-Marathon. Die Voraussetzungen waren also nicht die besten. Von Beginn an hatte ich Probleme bei Tempoläufen, kein Wunder bei so wenig Grundlage, aber blieb zum Glück verletzungsfrei, hatte eine gute Grundlagenausdauer vom Radfahren und konnte in den letzten Wochen die Geschwindigkeitsdefizite zumindest erheblich reduzieren, so dass ich optimistisch nach Chicago reiste.

Praktischerweise begannen am Freitag die Herbstferien, so konnten meine Frau und meine beiden Töchter mich begleiten. Moralische Unterstützung bei solch einem Marathon ist mit Geld nicht zu bezahlen - auch hier sollte sich noch zeigen, wie wertvoll sie ist...

Wir kamen am Freitag gegen 22.30 Uhr in unserem Hotel an, da war's in Deutschland schon 05.30 Uhr am nächsten Morgen. Diesmal machte mir der Jetlag mehr zu schaffen als sonst, sowohl am Samstag wie auch am Wettkampftag konnte ich den Zeitunterschied nicht einfach so aus den Kleidern schütteln.

Auf der Marathonmesse 
Samstag ging's auf die Marathonmesse, Startnummer und Gimmicks abholen, Infos einsammeln, Leute kennenlernen - mittlerweile ist das schon sowas wie Routine. Ansonsten genossen wir den schönen Tag in der "Windy City", aber mit gebremstem Schaum - schließlich sollte ich Sonntag morgen fit sein.

Der Wecker klingelte um 05.15 Uhr, aber ich war eigentlich schon vorher wach. Geschlafen hatte ich leider nicht sehr viel bzw. gut, aber egal: Ich frühstückte reichlich und gut wie immer vor einem Marathonlauf, zog mich fertig an, plus Malerjacke gegen die "Morgenfrische", die ich mir am Vortag für ein paar Dollar gekauft hatte, und marschierte gegen 06.00 Uhr los in Richtung Start. Meine Frau und unsere beiden Töchter schliefen noch, sie wollten mich bei Meile vier und später nochmal anfeuern, hatten dafür aber noch Zeit.

Auf dem Weg zum Start traf ich mehrere Läufer, u.a. eine junge Frau aus Ohio und einen älteren Kollegen aus Arizona, wir quatschten und verkürzten uns so den ca. 2,5 km langen Marsch in den Grant Park. Dort trennten wir uns, jeder ging durch sein Gate bzw. in seinen Startcorall, und ich musste noch ca. 50 Minuten rumbringen, ehe es losging, was ich mit Gymnastik und einem kurzen Warmlaufen hinbekam.

Kurz nach dem Start - ich bin rechts hinten, unter dem "n"
des Wortes "Marathon"...
Quelle: http://espnharrisonburg.com/news/030030-oct-14
-2016-the-best-sports-shots-this-week/
(AP Photo/Nam Y. Huh)
Zum Wetter: Es war eigentlich fast perfekt - noch besser als vorhergesagt und vor allem nicht so kalt! Eigentlich waren 9-13°C "versprochen", aber real waren es schon am Start um 07.30 Uhr 11°C, und da war die Sonne noch nicht mal draußen. Ich hatte ein langärmliges Funktionsshirt an und spendete meine Einweg-Wärmejacke der jungen Sportkameradin Riki Allen aus Chicago, die erbärmlich fror (sie lief aber superstark und verpasste ein Sub3-Finish nur um 16 Sekunden). Schon kurz nach dem Start war mir auch das zu warm, und ich entledigte mich dessen während des Laufes und warf es meiner Familie zu, als die an Meile vier auf mich wartete - doch dazu später mehr...

Im Startcorall unterhielt ich mich mit Chris, der die 3-h-Gruppe pacen sollte (der Junge ist Mitte 30 und machte heute schon bei seinem 102. Marathon die Pace!), und dabei sprach mich Stephan Iris aus Kleinmachnow an, der beruflich in Chicago war und den Marathon auch in Richtung Sub3 angehen wollte. Wir entschieden uns, zusammen zu laufen, und wollten uns gegebenenfalls der Pacegruppe anschließen.

Bei Meile 1: Love me, love me, love me...

Kilometer 1-5: Einrollen und auskleiden...

 

Der Startschuss ertönte pünktlich, wir überquerten ca. 20 sec. nach dem offiziellen Start die Linie und liefen von Beginn an schön gleichmäßig. Leider sponn der Garmin, der mit der direkt nach dem Start zu unterquerenden ca. 400m langen Unterführung nicht klarkam und mir daher einige hundert Meter Extra "aus dem Nichts" auf die Uhr zauberte. So war auch die Kilometerwarnung kaum zu gebrauchen, bestenfalls als Warnhinweis, dass man sich dem nächsten Kilometer näherte - ich hatte bereits nach 2 km angeblich 2,5 absolviert, und später kamen noch einige hundert Meter hinzu. Das ist halt eine große Schwäche des Geräts: Nicht nur in stark bewaldetem Gebiet, wo er gerne Strecke unterschlägt, schwächelt der Forerunner 620, sondern auch in großen Städten mit Häuserschluchten, nur dort halt umgekehrt - er zeichnet zuviel Strecke auf.

Aber das wußte ich vorher - ich ließ ohnehin nur die Gesamtzeit auf der Uhr anzeigen, und die Splits für 2:59:20 hatte ich im Kopf: 4:15/km. So liefen Stephan und ich auch zunächst mal, nachdem wir den Chicago River überquert hatten und nun durch die proppenvolle und von vielen begeisterten Zuschauern gesäumte Innenstadt rannten, genau diese Pace. Es ging über die Grand Avenue Richtung Westen, dann links nach Süden über die South State Street, und wieder über den Chicago River. Der Kurs war nicht einfach: Schlaglöcher und Bruchkanten gab's sogar in der Innenstadt zuhauf (später noch mehr), und die teilweise metallenen Laufflächen auf den Brücken waren an manchen Stellen mit Teppich abgedeckt, der aber wackelte und waberte, und da musste man richtig aufpassen.

Bei Kilometermarke sieben: Und weg das Ding!
Das Durchlaufen des "Loops", des Innenstadtbereichs von Chicago, sorgt aber gleich mal für ein Highlight-Feuerwerk auf den ersten Kilometern: Menschenmassen, Lärm, Stimmung, das motiviert ungemein.

Wir waren jetzt ungefähr auf Höhe des Starts, nur ein paar Straßen weiter westlich. Nun kam wieder eine 90°-Rechtskurve, dann ein Stück den West Jackson Boulevard und nochmal rechts auf die South Lasalle Street, dann ab nach Norden: Wir liefen nun am Anfang einer sehr langen Geraden zwischen km 4,5 und 8,5, an deren Ende der Lincoln-Park begann.

Kilometer 6-10: Tick, tack, tick, tack macht das Uhrwerk...

 

Stephan und ich waren exakt auf Pace für ein Sub3-Finish: 4:15, 8:30, 12:45, 17:00 usw. Zwischen km 5 und 6 entledigte ich mich dann auch, wie bereits erwähnt, meines viel zu warmen Funktionsshirts: Lauftrikot aus, Shirt aus, in die Hose gesteckt, Lauftrikot wieder an. Das klappte problemlos. Bei Kilometer sieben sah ich meine Mädels und warf ihnen das Shirt zu. Sie zu sehen, gab mir echt einen Schub. Auch Stephan war richtig neidisch: "Mit so 'nem Fanclub muss dat ja klappen!" meinte er lachend. Wir kamen prima voran, es tat gut, einen Kompagnon zu haben. Hatte ich beim Marathon ja eigentlich noch nie. Das wird sich vielleicht in Zukunft ändern! Bisher hatte ich ja immer ein bisschen Muffensausen davor, mit jemandem zusammen zu laufen, aber das machte wirklich Spaß und gab auch Sicherheit.

Wir waren jetzt aus der dem Bezirk "Near North" raus und kamen nach Lincoln Park, die Hochhäuser hatten in einer baumgesäumten Straße kleineren Gebäuden Platz gemacht, teilweise toller viktorianischer Stil, teilweise aber auch hässliche Funktionsbauten. Mir fiel auf, dass wir erst den Goethe Drive, dann den Schiller Drive kreuzten - Zeugnis der Tatsache, dass Chicago mit 190.000 Deutschstämmigen (das ist nach Polen mit 210.000 und Iren mit 191.000 die drittgrößte Gruppe) eine der größten Auswanderungsziele der deutschen Auswanderer in den letzten 200 Jahren war. Nun ging's auf den North Stockton Drive durch den Lincoln Park, rechts von uns lag der Zoo (der übrigens keinen Eintritt kostet!), links der Lincoln District. Hier war die Straße nach der öden Geradeauslauferei auch mal ein bißchen gewunden, und es gab einige Kurven. Landschaftlich wunderschön!

Kilometer 11-15: Vorbei am Lake Michigan und dem nördlichsten Punkt...

 

Bei Kilometer zehn wechselten wir auf den North Cannon Drive und liefen am Lakeshore Drive entlang, man konnte rechts den Lake Michigan sehen, es ging raus aus dem Park, bis zur West Addison Street. Das war auch der nördlichste Punkt des gesamten Marathons, kurz danach ging es dann auf dem North Broadway wieder nach Süden. Bei km 15 waren wir immer noch fast genau auf unserer Pace, nahmen dabei sogar ein wenig raus, weil wir uns ca. zehn Sekunden Vorsprung erlaufen hatten.

Ich dachte an den Tipp von Joachim Groß von den Grojos Elversberg, der mir geraten hatte, unbedingt defensiv bzw. progressiv zu laufen, d.h. die zweite Hälfte schneller, und ruhig bei genau 1:30:00 oder sogar etwas später die Halbmarathonmarke zu passieren. Der Marathon wird nicht bei km 21,1 entschieden, meinte er. Und so lief ich möglichst exakt diese Pace, Stephan immer neben mir. Wir redeten jetzt schon deutlich weniger als am Anfang, beim Getränkeholen unterstützen wir uns gegenseitig - alle Meile gab's zu trinken, Gatorade und Wasser, und so wie die Sonne mittlerweile brannte, war das auch wichtig, sich regelmäßig zu hydrieren.

Kilometer 16-20: Die ersten dunklen Wolken...

 

Auch wenn ich das Shirt losgeworden war - die dünnen Handschuhe behielt ich noch eine Zeitlang an. Nicht nur, dass sie kalte Fingerspitzen verhindern und so auch helfen, Energie zu sparen - es macht's auch etwas bequemer, sich den Schweiss abzuwischen. Sollte man gerade bei solch frühen Starts eigentlich immer dabei haben - würde ich jedenfalls empfehlen. Wir spulten ansonsten wie ein Uhrwerk die Kilometer ab, nun näherten wir uns schon dem Halbmarathon. Stephan war kurz austreten gegangen, hatte mich aber zwei Kilometer später wieder aufgelaufen - da war ich baff erstaunt, ich hatte erst viel später mit ihm gerechnet. Aber es lief geschmeidig, ich war guter Dinge. Wir waren mittlerweile auf die North Wells Street gewechselt, die Parallelstraße zur North Lasalle Street, die wir hochgekommen waren, kamen wieder in die Innenstadt und sahen die Wolkenkratzer vor uns.

Brücken, Brücken, Brücken: Sechs Stück überquert man.
Wir waren immer noch genau auf Pace, 1:16:00 bei km 18, es war ein richtiger "Flow" - bis dahin. Aber nun merkte ich plötzlich, dass ich schon Fußschmerzen bekam - eindeutig zu früh.

Meine Brooks Green Silence, die mich in Berlin und New York unter drei Stunden getragen hatten und auch bei meiner persönlichen Bestzeit im Halbmarathon im Bottwartal und über zehn Kilometer in Bad Kreuznach mit dabei waren, sind nun auch schon vier Jahre alt und haben weit über 500 km Rennbetrieb drauf. Eins war mir schon klar: Das hier wird ihre Abschiedsvorstellung!

Ich hätte auf Henning Jochum hören sollen, der mich gewarnt hatte: Sind die Schuhe erstmal älter als zwei Jahre, lässt ihre Dämpfungswirkung rapide nach.

Und so war es auch bei mir - die Dämpfungswirkung, bei Rennschuhen eh wegen der Gewichtsersparnis suboptimal, war quasi nicht mehr vorhanden. Und noch ein Problem hatte ich, das war mir schon beim Vorbereitungslauf in Rülzheim aufgefallen: Meine Knie scheuerten knapp unterhalb des Gelenks immer wieder aneinander, wohl deshalb, weil die Schuhe nicht mehr so stabil waren. Mit meinen anderen Schuhen, die ich in der Vorbereitung trug, passierte mir dergleichen nie. So hatte ich bereits nach knapp zwanzig Kilometern ein kleines Handicap, das ich wirklich nicht brauchte.

Kilometer 21-25: Schön auf Pace das erste Tief überwunden...


Kurz vor der Halbmarathonmarke fing ich, vielleicht auch deshalb, an, ein wenig zu schwächeln: Ich ließ Stephan laufen, und die Pace-Gruppe von Chris überholte mich, bevor ich mich dranhängte. Die Pace der Gruppe um Chris hielt ich zwar problemlos, aber ich fühlte mich da nicht so gut - erstmals bei diesem Lauf.

Es ging zum vierten Mal über den Chicago River, jetzt merkte ich auch den Anstieg an der Franklin Street Bridge deutlich. Die Durchgangszeit bei km 20 war 1:25:15, nur noch drei Sekunden vor den Sub3. Ich lief aber trotzdem genau so weiter, so gleichmäßig wie möglich - das hatte ich mir vorgenommen, und das wollte ich auch unbedingt durchhalten.

Wir überquerten den südlichen Arm des Chicago River und liefen auf der Monroe Street westwärts, und kurz vor dem Knick nach Süden in die Jefferson Street war die Halbmarathonmarke.

Beim Halbmarathon zeigte die Uhr exakt 1:29:59 - ich war also genau auf Kurs. Das beruhigte mich ein wenig, und die nächsten Kilometer durch die Adams Street nach Westen Richtung United Center liefen deutlich besser. Ich lief ganz ruhig hinter der Pacergruppe her, wir überquerten den Highway 90, liefen am Spinner Park vorbei, hier wurde es nochmal laut, weil wir an der "Charity Block Party" vorbeiliefen, wo uns alle laut anfeuerten, und passierten die beeindruckende Arena der Chicago Bulls bzw. Blackhawks, der Basketball- bzw. Eishockeyteams von Chicago.

Ich fühlte mich noch recht gut, hatte mein Tief erstmal überwunden, aber die ersten "tropften" bereits aus der Gruppe heraus. Es war nun auch richtig warm, die Sonne brannte vom Himmel, und man merkte, dass nun für viele der Kampf begann.

Kilometer 26-30: Der Kampf beginnt...

 

Streckenmäßig ging's wieder zweimal 90° links und zurück Richtung Osten. ehe wir an der Kreuzung des Highways 90 und 290 nach Süden abbogen. Die Gegend hatte sich rapide verändert, es waren zwar noch ab und an Zuschauer da, die uns anfeuerten, aber dann liefen wir auch mal ganze Stück völlig allein.

Wir waren nun bei km 28, zwei Drittel das Marathons waren vorbei, und ich musste schon anfangen zu kämpfen, um Chris' Gruppe zu halten. Schneller als bestenfalls knapp unter drei Stunden zu laufen, hatte ich mir hier schon abgeschminkt - mir war klar, dass die Beine heute allenfalls eine Sub3-Punktlandung hergeben würden, aber nicht mehr. Die Innenseiten meiner Knie brannten nun wie Feuer, aber den Schmerz konnte ich ignorieren - es war ja nichts Strukturelles, was mich beim Laufen hinderte oder durch das ich Gefahr lief, aufgeben zu müssen.

Es war wirklich hart hier zwischen Little Italy und dem University Village - auch hier kaum Zuschauer, die einen anfeuerten, nur sporadisch. Da merkt man mal, wie wichtig das ist. Glücklicherweise sah ich hier meine Familie zum zweiten Mal, sie jubelten mir zu und feuerten mich an, das gab mir nochmal für einige Zeit Kraft und positive Gedanken.

Ich konnte die Pace der Gruppe auch halten, obwohl sie mir verdammt schnell vorkamen. Später sah ich, dass es sogar eine 20:53 zwischen km 25 und 30 waren - Chris hatte offenbar ein wenig angezogen. Ich hatte mir aber seit der Halbmarathonmarke abgewöhnt, ständig auf die Uhr zu schauen - wozu hat man einen Pacer? Bei km 30 dann 2:07:34 - fast genau richtig, 2:07:57 war die errechnete Zeit für ein 2:59:59er Finish, also hatte ich immer noch 24 Sekunden "Gras".


Kilometer 31-35: Nicht denken - laufen!

 


Die Spitze bei km 30
Trotzdem wurde es für mich nicht leichter - auf den nächsten vier Kilometern schwächelte ich dann doch ziemlich und konnte gerade mal so 4:16er bis 4:18er-Kilometersplits laufen. Die positiven Gedanken schwanden, ich fing an zu grübeln. Der Mann mit dem Hammer klopfte schon an die Tür. Was, wenn ich weiterhin so verliere - nun fast ohne Reserve? Was, wenn ich nachher 3:00:04 laufe? Was, was, was? Ich riss mich trotzdem immer wieder zusammen - hey, Hammermann, Du kommst hier nicht rein!

Hier kam mir jetzt die Erfahrung aus den vielen Marathonläufen, die ich schon absolviert hatte, richtig zugute. Denkapparat ausschalten, voll aufs Laufen konzentrieren, Kilometer für Kilometer - so blieb ich im Rennen.

Wir liefen südwärts durch die Halstead Street, überquerten zum sechsten und letzten Mal einen Fluß (zum zweiten Mal den Südarm des Chicago River) und machten nochmals einen Haken nordostwärts, Richtung Cermak Street, von der bogen wir nach rechts ab und betraten durch das große rote Pagodentor Chinatown - mit einem Mal war man in einer ganz anderen Welt, leider konnte ich die Eindrücke gar nicht richtig aufnehmen, weil ich einfach nur noch am Kämpfen war.

Kilometer 36-40: Hier wird geerntet, was man im Training gesät hat!

 

Wir passierten kurz danach km 35, wo ich noch erträglich im Plan lag (21:24 für die letzten fünf Kilometer, noch 19 Sekunden vor der Sub3). Aber jetzt wurde es richtig hart: Ich verlor die Gruppe immer wieder und musste mit vorsichtigen Beschleunigungen ein ums andere Mal wieder ranlaufen, sonst hätte ich mein Sub3-Ziel aufgegeben - Marathon ist zu 90% Kopfsache!

Ich entschied mich deshalb auch für diese kleinen "Zwischensprints" - jetzt noch gleichmäßig durchzulaufen, hätte mich wahrscheinlich auf einem zu langsamen Tempo "eingelullt" und ich hätte den Fokus verloren.

Eingangs Chinatown - noch ca. 7,5 km...
Die Abwechslung war zwar kräfteraubend, aber tat mental gut und verkürzte die Leidenszeit. Trotzdem wurde es von Kilometer zu Kilometer härter. Viele mussten das hier im "Tal der Tränen" erkennen und fingen an zu gehen - die Gruppe um Chris schrumpfte sichtbar, von ehemals 50 Läufern waren vielleicht noch 15-20 übrig. Stephan hatte mittlerweile auch rausgenommen und war hinter mir - das hatte ich aber gar nicht registriert, ich dachte, er sei mir schon lange enteilt.

Zwischen Kilometer 35 und 40 kämpfte ich also meinen großen Kampf. Mir war klar, dass ich Zeit verlor, aber ich weigerte mich weiterhin standhaft, ständig auf die Uhr zu schielen. Ich wußte, solange ich die Gruppe einigermaßen halte, ist alles gut. Das rigide Durchhalten meines Trainingsplans und die Konsequenz in der Vorbereitung gaben mir hier auch mental Sicherheit und Stütze: Man macht sich selbst Mut, und das funktioniert, wenn man, was die Vorbereitung angeht, ein reines Gewissen hat!

Bei km 37 bogen wir auf die Michigan Avenue ein. Diese lange Straße, die Chicago von Süden nach Norden durchzieht und in deren Nähe einige Kilometer nördlich unsere Wohnung lag, sollte nun für fast den Rest des Rennens der "Home Stretch" sein - fast fünf Kilometer ging es auf ihr dem Ende entgegen, bis ca. 800 Meter vor dem Ziel, wo dann die Roosevelt Road abzweigte und kurz danach links auf den South Columbus Drive führte. Ich kämpfte, wie gesagt, aber hatte bis km 40 noch Probleme.

Kilometer 41-42,2: Mit den letzten Reserven zur Punktlandung

 

Christoph Columbus grüßt bei km 42!
Egal: Auch wenn ich zwischen km 35 und km 40 "nur" 21:43 lief und somit auf den letzten fünf Kilometern 28 Sekunden auf die 4:15-Pace verlor - bei km 40 hatte ich mit einer 2:50:40 nur genau drei Sekunden Rückstand gegenüber der Pace für eine 2:59:59 (2:50:37 bei 40 km). Das war beherrschbar - nur musste ich eben noch über die letzten 2,2 km Gas geben und die letzten Körner raushauen! Bis hierher hatte ich mir Zurückhaltung auferlegt und richtig kraftraubende Fast-Sprints mit langen, raumgreifenden Schritten vermieden - damit war jetzt aber Schluss!

Ich war da richtig froh, Joachim Groß' Tip beherzigt zu haben. Ich spürte wie gesagt, dass ich noch Reserven hatte, zwar nicht mehr viele, aber einige Pfeile waren noch im Köcher und eine dezente, kontrollierte Beschleunigung war noch drin. Ich lief den nächsten Kilometer erstmal in 4:15, um für den Schlusssprint warm zu werden, damit war ich fast exakt auf Kurs, dann beschleunigte ich nochmals, nun waren's nur noch 1,2 km, und wir näherten uns dem südlichen Ende des Grant Parks.

Das Ziel auf dem South Columbus Drive - zwei Tage später...
Ich überholte jetzt nur noch, viele Läufer waren mit ihren Kräften am Ende. Einer fing gerade, als ich überholte, an, zu gehen - ein Kilometer vor dem Ziel und mit einer Sub3-Zeit zum Greifen nah! Der tat mir richtig leid.

Ich hatte auch Chris' Gruppe vor mir, zwar für mich nicht mehr erreichbar, aber im Blickfeld (sie waren knapp 50-80 Meter vor), und das war gut. Jetzt schoß mir das Adrenalin so richtig in die Beine, und ich konnte nochmals beschleunigen.

800 Meter vor dem Ziel dann ein Schild und eine Rechtskurve, es ging über die Roosevelt Road nochmal leicht bergan über die Bahnstrecke und dann nach links auf die Zielgerade des South Columbus Drive.

Kurz vorm Ziel (marathonfoto.com)
Ich lief mittlerweile eine 3:50er-Pace und wußte sicher, dass ich dann doch einige Sekunden unter den drei Stunden würde bleiben können. Ich sah die Skyline vor mir, das Ziel war nicht mehr weit, und das Glücksgefühl, dass sich nun einstellte, kennt jeder, der Marathon läuft, nur zu gut.

Die letzten 200 Meter geht es sogar noch leicht bergab, das macht das Ganze noch schöner. 50 Meter vor dem Ziel sah ich, dass die Bruttozeit noch einige Sekunden unter drei Stunden war. Jawoll, das reicht locker! Bei 2:59:47 stoppte ich meine Uhr, als ich die Ziellinie überquert hatte - immerhin hatte ich also auf den letzten 2,195 km mit einem 4:09er-Schnitt noch 16 Sekunden gut gemacht.

Meine Beine signalisierten mir sofort: Gehen, und zwar langsam! Mehr ist nicht mehr drin! Die Milchsäure schoss ins Muskelgewebe, auch die Scheuerstellen am Knie schmerzten jetzt wieder, und ein wenig bluteten sie auch, aber das war mir jetzt auch egal. Ich trank, aß und holte mir Medaille und Wärmedecke ab - letztere hätte ich eigentlich nicht gebraucht, es war superwarm. Dann das obligatorische Foto, und ruhiges, langsames Gehen Richtung Massagezelt.

Ich war überglücklich und sehr zufrieden mit mir. Während der Vorbereitung hatte ich schon Zweifel gehegt, ob es für eine Zeit unter drei Stunden reichen würde, erst gegen Ende der zehn Wochen wurde ich vorsichtig optimistisch. Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen. In diesen Momenten genießt man einfach nur: 52 Trainingseinheiten, 765 Kilometer Laufen, 55.000 kcal, 553.200 Herzschläge - hat sich gelohnt!

Im Ziel glücklich vereint - meine Mädels und ich
Endlich, nach gefühlten drei Kilometern Fußmarsch (in Wirklichkeit war es gerade mal einer), kam ich im Massagezelt an, das fast genau am Startpunkt stand. Keine Wartezeit - ich war direkt an der Reihe! Das ist halt einer der Vorteile, wenn man unter den ersten 1.000 ankommt.

Die Massage war hart, aber eine Wohltat. Sharon und Lia, zwei Schülerinnen einer Physiotherapieschule, kneteten mich ordentlich durch - das tat zwar teilweise richtig weh, aber kurz danach sehr gut. Vor allem die Behandlung der Waden und des Rückens wirkte Wunder. Danach konnte ich viel besser gehen und begab mich in Richtung Familientreffpunkt, wo ich meine Lieben kurz darauf fand. Da war das Glück perfekt. Sie erzählten mir von ihren Abenteuern, waren mit U-Bahn und Bus durch Chicago getourt und hatten mich dreimal gesehen, einmal sogar auf einer Riesenleinwand!

Meiner Familie muss ich an dieser Stelle nochmal richtig herzlich "Danke!" sagen. Es tat richtig gut, Doris und die Mädels dabei zu haben. Sie machen seit Jahren die ganzen Auswüchse, die die Laufverrücktheit so mit sich bringt, klaglos (ok, mehr oder weniger...) mit und unterstützten mich besonders in den letzten Wochen ungemein. Der einzige Wermutstropfen war das Fehlen unsere Sohnes Jan-Robin, aber der studiert nunmal seit Anfang Oktober und konnte daher leider nicht mit. Aber wie gesagt, dass wenigstens der Großteil der Familie mit dabei war, hat mir sehr geholfen.

Wir gingen langsam Richtung U-Bahn, auf dem Weg dahin traf ich auch Stephan wieder, und wir beglückwünschten uns gegenseitig. Er hatte, wie gesagt, zwischen km 25 und 30 begonnen, rauszunehmen und war in einer 3:08er-Zeit reingekommen. Für eine Ultraläufer sind Sub3-Zeiten nicht so wichtig, aber ich bin mir sicher, wenn er es drauf angelegt hätte, hätte er das locker geschafft.

Ein wenig Werbung für die Heimatstadt - denn
so sah man mich von hinten!
Danach ging's in die U-Bahn, die Treppen bereiteten mir leichte Probleme, aber irgendwie bekam ich das auch noch hin. Kurz danach waren wir zu Hause, wo ich mir erstmal ein Bad und danach eine multiple Allgäuer-Latschenkiefer-Therapie für Beine und Füße gönnte. Die heimischen Produkte der Dr.-Theiss-Gruppe sind für Sportler wirklich eine Wohltat. Nach ein wenig Ruhe ging's mir schon wesentlich besser, und wir machten sogar noch einen längeren Spaziergang zum Navy Pier und in die Stadt, wo wir auch das "Siegermenü" verspeisten - auf Wunsch der Gattin im TGI Friday's. Ich hatte Riesenhunger und aß mich richtig satt!

Analyse: 

 

Eine kurze, vorläufige Auswertung meiner Leistungsdaten: Pulsschnitt 153, maximal 167 (beim Zielsprint auf den letzten 1,5 km), bis zur Hälfte ziemlich exakt, auch im Schnitt, 149, danach stetig ansteigend, 156 auf der zweiten Hälfte im Schnitt  - also alles ganz normal - mein pulsmäßig ruhigster Marathon bisher, in Boston hatte ich 154. Schrittfrequenzmäßig war ich auch gut unterwegs, 183 im Schnitt, aber auch hier nach hinten abfallend, obwohl in erträglichem Maß - der Laufstil war also effizient genug.

Von Marathon zu Marathon flacher - meine Herzfrequenzkurve
927. Platz insgesamt (von 40.546), 840. Platz bei den Männern (von 22.029), 72. Platz in der Altersklasse (von 2.967), neuntbester Deutscher (von 311) und letzter Germane unter drei Stunden. Und - tada! - mal wieder bester Saarländer! Wir waren immerhin zu sechst, nach mir kam Oliver Kerber (37) aus Saarlouis mit 3:34:44 auf Platz 5643 ins Ziel.

Aber am allerwichtigsten - der negative Split: 1:29:59 für die erste Hälfte, 1:29:48 für die zweite. Dieser Plan ist aufgegangen, endlich mal, was mir bei einem Marathon noch nie gelungen ist, und anders hätte ich den Sub3-Marathon wohl auch nicht geschafft. Wie wichtig dieser negative Split ist, wird anhand der Platzierungen deutlich.

Für die Gesamtplatzierung war mir die Recherche eindeutig zu viel Arbeit, aber es wird klar, wenn man sich die Platzierungen unter den Deutschen und in der Altersklasse ansieht:

Bei den vor mir platzierten Deutschen lief keiner eine langsamere erste Hälfte, aber sechs hinter mir platzierte Landsleute eine schnellere - ich verbesserte mich also gemessen an der "Halbmarathon-Zeit" von Platz 15 auf den neunten Platz in der "Nationalwertung".

Und in der Altersgruppe lief nur einer der vor mir platzierten Läufer eine langsamere erste Hälfte, aber 51 hinter mir platzierte eine schnellere - hier verbesserte ich mich also um 50 Plätze (!) von 122 auf 72.

Chicago ist - ob mit oder ohne Marathon - äuf jeden Fall eine Reise wert!
Aber das wichtigste ist: Mir geht's gut, ich bin zwar etwas ermattet, aber schmerzfrei und gesund. Jetzt genießen wir erstmal noch für einige Tage die Stadt, heute geht's zur Parade anlässlich des Columbus Day und in den Zoo. Ich freu mich jetzt auf den Urlaub, da die Arbeit ja vollbracht ist!

Ausblick:


Four down, two to go: Nach Berlin 2012, New York 2013 und Boston 2015 war das mein vierter Marathon unter drei Stunden, nachdem die ersten drei (Frankfurt 2009, Sankt Wendel 2010, Berlin 2011) noch drüber waren. Von den "Major Six" habe ich jetzt noch London und Tokyo vor der Brust. Im Moment weiß ich noch gar nicht, wann ich die angehe, der vorläufige Plan ist einer in 2018 und der andere in 2019, aber vielleicht ändert sich das auch noch. Im Moment genieße ich erst mal das Erreichte und freue mich auf eine Zeit ohne Trainingsplan!

Für die ganz Neugierigen hier nochmal die anderen Finisher aus dem Saarland! Herzlichen Glückwunsch!

5643     Kerber, Oliver        Saarlouis     37     03:34:44
13321    Schaefer, Elisabeth   Völklingen    56     04:02:59
13949    Specht, Dieter        Merzig        53     04:05:26
15136    Godlewsky, Thomas     Saarbrücken   51     04:09:47
31713    Roman, Karl-Heinz     Nohfelden     58     05:18:08






2 Kommentare:

  1. Glückwunsch! Habe den Lauf im Livestream verfolgt und Dich gedanklich angefeuert! Jetzt aber mal gute Erholung und viel Spaß für Dich und Deine Familie! Yvonne

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    1. Super, Yvonne! Ich hab's gespürt ;-). Ehrlich - all die Leute, die mir die Daumen´gedrückt haben, haben mich wirklich motiviert und beim Durchhalten geholfen. Danke dafür!

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